Wer lebt, fühlt. Das Fühlen ist existenziell, die Gefühle hingegen sind kultiviert oder stilisiert, unterdrückt oder stimuliert, authentisch oder manipuliert. Während das Fühlen ein sprachloses Empfinden ist, drängt es die Gefühle zur Sprache. Sie ringen um Worte und finden allzu oft nur Phrasen. Die menschlichen Gefühle sind ein diffuser Stoff: „Wenn wir nach innen schauen, sehen wir oft schlicht ungeheure Unordnung. Schwankende Gefühle, unklares Begehren und Wünsche, die miteinander in Konflikt stehen. Authentizität ist eine terroristische kulturelle Idee. Sie zwingt einen, nach der Quintessenz des eigenen Wesens zu suchen: Aber oft gibt es diese Quintessenz nicht. Gefühle, ebenso wie Menschen, sind Größen, die sich verändern“, so die israelische Kultursoziologin Eva Illouz.
Eine Herausforderung, auf die der Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge mit einem ingeniösen Schachzug reagiert: Seine „Chronik der Gefühle“ versammelt Geschichten, die von ihrer Wirkung erzählen, ohne sie zu benennen. Sie machesie wahrnehmbar, ohne sie zu bezeichnen. Der Chronik vorangestellt sind die programmatischen Sätze: „Die Gefühle sind die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe“ und „sie sind überall, man sieht sie nur nicht“. Der Modus aber, in dem Kluge sie manifest macht, ist derjenige der Literatur. Sie lässt Gefühle, das zeigen Kluges knappe und lakonische Episoden, auch ohne viel Worte sprechen.
Liebe, Hass, Melancholie, Sehnsucht und Begierde bieten ein schier unerschöpfliches Reservoir an literarischen Stoffen. Den Gefühlen aber ist die Literatur ein Akt der Rationalisierung sowie eine Membran ihrer Ambivalenzen. Dabei gehört zu den Binsenweisheiten der Literaturtheorie, dass Literatur und Gefühl kein synchrones, sondern ein konsekutives Verhältnis bilden. Schon die „Xenien“ warnten davor, „mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen“ und Roland Barthes statuiert: „Das liebende Subjekt kann seinen Liebesroman nicht selbst schreiben“. Vielmehr erfährt die Mär, der Dichter artikuliere im Akt des Schreibens sein tiefstes Innerstes, im 18. Jahrhundert eine höchst produktive Inversion. Dem schreibenden Menschen führen nicht die Affekte die Feder, vielmehr erzeugt die Kälte seiner Beobachtung im Akt des Schreibens kalkulierte Gefühle, die der lesende Mensch in umgekehrter Richtung dekodiert und temperiert. Derart erschafft die Literatur ihr eigenes Gefühlsregister, das in die Alltags- und Trivialkultur einsickert. „Kalkül und Leidenschaft“ (Joseph Vogl) bilden schon im 18. Jahrhundert die zwei Seiten einer Medaille und prägen bis heute die zwischen Symbiose und Vivisektion changierende Beziehung zwischen Literatur und den Gefühlen. Diesen intimen Banden, die sich allen Dekonstruktionen zum Trotz als stabil erweisen, widmen wir literaTurm 2012.
Mit dem Festival loten wir den gegenwärtigen Zustand dieser großen Wahlverwandtschaft aus und zeigen, wie lebendig, produktiv und vielfältig sie auch heute noch ist. Und dies, obwohl sich die Literatur mit einer Inflation an medialen wie filmischen Leidenschaften konfrontiert sieht, die der Logik der Extreme folgen. Wie also, so die Leitfrage von literaTurm 2012, kann angesichts dieser Konjunktur an synthetisch erzeugten Gefühlen eine zeitgenössische Literatur noch Gefühle artikulieren? Was bleibt ihr als dem genuinen Medium des Emotionalen, wenn die Emotionen von der Werbung bis zur Politik alles durchdringen? Zwingt das die Literatur zu Ausweichmanövern oder inspiriert es sie zu neuen ästhetischen Verfahren? Opfert sie der Analyse die Empathie, der Einsicht die Einfühlung? Fragen zu einer zeitgenössischen Gefühlspoetik, die in den Lesungen und Gesprächen diskutiert werden.
Der Überzeugung geschuldet, dass Romane in allzu seichten Gewässern waten, wenn Liebe und Leid zum Schmieröl der Handlung werden, haben wir sie auch dort entdeckt, wo sie im Verborgenen wirken. Wir haben Werke ausgesucht, die das Register der Gefühle zu ästhetischer Reflexion herausfordert. Die nicht, wie etwa Film und Fernsehen, vor dem gedehnten Rhythmus ihres Entstehens und Vergehens versagen. Die für Gefühle eine eigene, individuelle Sprache finden. Romane, die Partikel des Emotionalen und ihre historischen Formen in den Text einweben. Die mit tiefengeschärften Konstellationen heutiger Emotionalität konfrontieren, ohne dem Sachbuch Konkurrenz machen zu wollen.
Mit diesem Programm setzen wir dem Klischee, gerade die avancierte Literatur immunisiere sich gegenüber Emotionen, Romane entgegen, die das Repertoire dieser Beziehung signifikant erweitern. Dabei scheint uns die „paradoxe Situation von Offenbaren und Verbergen, […] Vermeiden und Verheißen“, so Michael Lentz, konstitutiv für literarische Verfahren, den Emotionen eine Physis zu geben.
literaTurm stellt Romane vor, in denen die Coolness zum Antidot gegenüber den unendlich reproduzierten Klischees von wahrer Liebe und echtem Begehren wird. Die für die „Gefühle im Zeitalter des Kapitalismus“ (Eva Illouz) Figuren erfinden, deren rationalisiertes Seelenleben einem an das Herz geht. In denen die latente Diskriminierung von Alterität, sei sie ethnischer oder sexueller Art, in eindrückliche Erzählungen fließt. Wir laden aber auch ein, Gefühle in der Sprache und der Stimmung eines Romans aufzuspüren, ihre Kippfiguren zu entdecken, ihre Referenzen zu entschlüsseln und ihrer Choreographie in familiären wie gesellschaftlichen Konstellationen zu folgen. Im Bewusstsein um den schmalen Grat zwischen Empfindsamkeit und Kitsch meiden wir das Pathos und die Überexplikation. Erst die ästhetische Sublimation schafft Remedur und bewahrt den Leser vor Gefühlsausbrüchen, die ihn nur kalt lassen können.
Sonja Vandenrath
Programmleitung