Atiq Rahimi:
Verflucht sei Dostojewski
Wieder einmal hoch über der Stadt, in der 28. Etage des OpernTurms, fand am 9. Mai das Gespräch zwischen dem in Kabul geborenen und seit 1984 in Frankreich lebenden Autor und Filmemacher Atiq Rahimi und dem Autor Walter van Rossum statt.
Rainer Schmitt von K & L Gates und Celine Lebret vom Institut français, Kooperationspartner der Veranstaltung, begrüßten die Gäste, darunter viele frankophone.
„Vielleicht sind diese Räume zu schön für den Inhalt des Buches“, bemerkte Walter van Rossum zu Beginn der Unterhaltung. Er stellte den Autor kurz vor, der für seinen ersten Roman in französischer Sprache „Syngué Sabour. Pierre de patience“ (Stein der Geduld) 2008 den Prix Goncourt erhielt.
Die ersten 22 Jahre seines Lebens verbrachte Atiq Rahimi in seiner Heimat Afghanistan, „es war eine wunderbare Kindheit, selbst noch in der ersten Zeit des Krieges. Kindern erscheint das anders.“ Seine Muttersprache ist Dari, sein Vater sprach Deutsch, schenkte dem 14-Jährigen „Les Misérables“ von Victor Hugo – schon damals beschäftigte den Jungen die Schuldfrage. Atiq Rahimi besuchte in Kabul verschiedene Schulen und erlernte Fremdsprachen, studierte in Paris an der Sorbonne audio-visuelle Kommunikation und promovierte. Soeben beendete er die Arbeit an der Verfilmung von „Stein der Geduld“.
„Ist jemand aus Afghanistan da?“, fragte Atiq Rahimi ins Publikum. Tatsächlich meldete sich eine Frau, geflohen aus Mazar-e Sharif, das damals noch keinem ein Begriff war. Walter van Rossum musste ihren stürmischen Redefluss stoppen: „Man kann hinterher Reiseerinnerungen austauschen.“
Atiq Rahimi kritisierte das intellektuelle Gehabe und die Überheblichkeit der Europäer gegenüber asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Völkern. „2002 besuchte ich Afghanistan, dort war alles zerstört, auch die Seelen der Menschen. 25 Jahre Krieg machen alles kaputt. Europa hatte fünf Jahre Krieg, und man verdaut noch immer daran. Wie viel schwieriger muss das in Afghanistan sein?“, fragte der Autor. Die Schuldhaftigkeit des Krieges bleibe in seiner Heimat im Dunkeln; Mörder jedweder Couleur spazierten über die Boulevards, gewissenlos. „Man tötet im Namen der Demokratie, der Freiheit, der Religion und schiebt Schuld und Verantwortung weit von sich“, konstatierte Atiq Rahimi. Während im Christen- und Judentum das Gefühl der Schuld benannt und entwickelt werde, gebe es das in der islamischen Gesellschaft von Afghanistan nicht.
„Von der Weltpolitik zurück zum Buch“, forderte Walter van Rossum. „Aber Sie haben doch gefragt!“, empörte sich lachend Atiq Rahimi.
Dostojewski bewegte ihn als Denker der Schuld und in Zusammenhang mit dem, was in Afghanistan geschieht. Die Geschichte seines Romans spielt im Jahr 1992. Als die Mujahedin die Macht übernahmen und der Bürgerkrieg begann, tötet Rassul eine reiche Wucherin. Der Autor liest den Beginn des Buches auf Französisch. „Es ist schon schön, Ihnen zuzuhören“, kommentierte anschließend Walter van Rossum. Passagen auf Deutsch, vorgetragen von Jochen Nix, folgten.
Der Autor berichtete anschließend über Merkwürdigkeiten beim Schreiben. Rassul hatte über 50 Seiten kein Wort mehr gesprochen. Wie konnte das passieren? Rahimi konsultierte einen Psychiater – eine seltsame Situation, denn es ging ja nicht um den Schriftsteller, sondern um seinen Protagonisten.
Trotz des ernsten Themas wurde während der kurzweiligen Unterhaltung viel gelacht, ständig entdeckte man neue Anknüpfungspunkte, die der Vertiefung wert gewesen wären.
Drei Autoren sind Atiq Rahimi besonders wichtig: Dostojewski, Kafka und Camus.
In der anschließenden Publikumsrunde fragte eine frankophone und seit 20 Jahren in Deutschland lebende Frau, wie es ihr gelingen kann, fehlerfrei Deutsch zu schreiben. Rahimi war um eine Antwort nicht verlegen: „Machen Sie aus Ihren Fehlern einen eigenen Stil!“, riet er. Literatur sei die Überschreitung grammatikalischer Grenzen. „Ich wusste zunächst nicht, mit den Artikeln im Französischen umzugehen. Une baguette? Un baguette? Schließlich verlangte ich deux baguettes!“, gestand Atiq Rahimi.
Die Leichtigkeit des Abends konterkarierte die Thematik von „Verflucht sei Dostojewski“ stark. Merkwürdig; störend wurden diese Widersprüche nicht empfunden.