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Podiumsdiskussion:
Die Ordnung der Gefühle

„Mit dieser Veranstaltung schließt sich ein Kreis – mit einer Expertenrunde begann literaTurm, heute findet das letzte große Themengespräch von Fachleuten statt, gleichwohl dauert das Literaturfestival noch bis zum Sonntag “, begrüßte Sonja Vandenrath vom Kulturamt Frankfurt die Gäste am 11. Mai im Chagallsaal vom Schauspiel Frankfurt.

Auf dem Podium hatten Hartmut Böhme, Professor der Kulturtheorie an der HU Berlin; Ute Frevert, Direktorin des Forschungsbereichs Geschichte der Gefühle am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung; Katja Lange-Müller, Autorin; Hubert Winkels, Literaturredakteur beim Deutschlandfunk und Ina Hartwig, Literaturkritikerin und Moderatorin dieser Diskussion, Platz genommen.

Allein schon der Ort war denkwürdig: Im Hintergrund des Saales hing Marc Chagalls großformatiges Gemälde „Commedia dell’Arte“, über den Diskutanten schwebten die Goldwolken-Kunstwerke von Zoltán Kemény, draußen, hinter den großen Glasfenstern, entluden sich Regenwolken über dem Euro-Symbol und dem Occupy-Camp.

„Wie erkennen Sie ein Gefühl?“, wollte Ina Hartwig wissen, nachdem sie die Experten vorgestellt hatte. Ute Frevert fiel eine spontane Antwort leicht: „Die einstündige Verspätung meines Zuges brachte eine ganze Kaskade von Gefühlen inklusive körperlicher Reaktionen bei mir zum Ausbruch“, sagte sie. Als Historikern allerdings könne sie Gefühle im Inneren nicht mehr identifizieren, sondern muss auf Hinterlassenes wie Schrift, in Fotos oder Zeichnungen festgehaltene Gestik und Mimik zurückgreifen.

„Ich kann ein Gefühl nicht erkennen, wenn es sich nicht ausdrückt. Selbst dann ist Irren möglich“, äußerte Eva Geulen.

Katja Lange-Müller sieht die Gefühle in ständiger Veränderung. „Und was heißt denn gemischte Gefühle? Unter einem gemischten Salat kann ich mir etwas vorstellen, aber unter gemischten Gefühlen?“, gab sie zu bedenken. Die zurzeit in der Villa Massimo lebende Autorin bekannte, dass es ihr in Rom Schwierigkeiten bereite, Gefühle bei anderen zu erkennen: „In Italien irre ich mich häufig, habe ich das Gefühl.“

Auf die reiche Geschichte der Artikulierung von Gefühlen verwies Hartmut Böhme. „Doch warum sind wir so entsetzlich unsicher bei diesem Thema?“ Früher galt es, etwas zu spüren, und zwar mit Erkenntnisgewinn.

Zu Empathie und Literaturkritik nahm Hubert Winkels das Wort. „Für mich ist die Frage wichtiger, wie man kein Gefühl erkennt. Im Film ‚Forrest Gump’ beispielsweise werden aufgrund von Autismus keine Gefühle sichtbar. Und das haut uns um, weil es ungewöhnlich ist.“ Als Literaturkritiker müsse er sich eher zurückhalten, als zu sehr in die Protagonisten „hineinzuschmelzen“.

Um Begrifflichkeiten ging es Ute Frevert, die sich in ihrer Forschung mit der Geschichte der Gefühle seit dem 18. Jahrhundert auseinandersetzt. Affekt, Leidenschaft, Sentiment – und Gemüt, übrigens ein deutscher Begriff, seien da zu nennen. Diese Begriffe dienten gleichzeitig als Demarkationslinien zwischen Nationen und Geschlechtern. Natürlich seien Gefühle ein überaus wichtiges Kommunikationsmittel.

Ebenfalls auf Begriffe, und zwar griechische, kam Hartmut Böhme zu sprechen. Er erläuterte die Bedeutung von Pathemata – Pathos – Pathie und als Gegenpol dazu Logos. „Wir Menschen können uns nicht nur von Gefühlen distanzieren, wir können sie sogar erzeugen, wie das beispielsweise Schauspieler tun“, bemerkte er. In der Literatur sah er einen Sozialisationsfaktor ersten Ranges, den die Medien später übernahmen.

„Hier geht mir jetzt einiges durcheinander. Als begnadete Lügnerin muss ich mich in Gefühle hineinsteigern, sonst wird mir das nicht abgenommen. Beim Schreiben ist von Anfang an ein bestimmter Ton da, es geht zwischen Autor und Leser um Chiffrieren und Dechiffrieren“, meldete sich Katja Lange-Müller zu Wort. Und brachte ihre Meinung drastisch auf einen Punkt: „Das Schlimmste, was man über einen Text sagen kann, ist doch: Das ist mir komplett am Arsch vorbei gegangen.“

Über die unterschiedliche Wirkung von Literatur und Musik diskutierte die Runde im Anschluss. Wird Literatur individuell und langsam wahrgenommen, Musik kollektiv und unmittelbar?

Hartmut Böhme wandte ein: „Literatur war von Anfang an Aufführung, man denke nur ans griechische Theater.“ Die Verinnerlichung von Literatur habe mit der massenweisen Verbreitung von Büchern zu tun und sei eher eine Zwischenphase. „Gefühle sind nicht einsam, sondern in höchstem Maße sozial. Es gibt zwischen sieben und elf Grundgefühle mit unendlich vielen Modulationen und extremer kultureller Ausdifferenzierung. Es ist wichtig, verstärkt auf die Erforschung der Strukturen von Gefühlen einzugehen. Gefühle sind ambivalent und haben auch mit Macht zu tun.“

Die Simplifikation von Gefühlen in den Massenmedien, die Merkantilisierung der Unterhaltungsindustrie, Gefahr und Chance globalisierter Gefühle wurden im letzten Teil der interessanten Gesprächsrunde thematisiert.  

Sonja Vandenrath begrüßt die Gäste
Hartmut Böhme
Ute Frevert
Katja Lange-Müller
Ines Hartwig, Hubert Winkels, Eva Geulen (v.l.)
Blick ins Publikum